Nachwort des Autors
Verse und Lieder über den „Großen Vaterländischen Krieg“ lehrten uns zu trauern und das Gedenken der Helden und der einfachen „Arbeiter“ des Krieges von den Marschällen des Landes bis zum einfachen Soldaten zu wahren. Noch mehr aber lehrten sie uns, den grimmigen und grausamen Feind zu hassen. Im Juni 1941 brachte er unserem Land Chaos, Schmerzen und Tod. Bis zum Ellenbogen hoch gekrempelte Ärmel der Uniformröcke, das Hakenkreuz, bleckende Zähne, der Schrei „halt“ und MPi-Serien auf unbewaffnete Menschen – unsere Väter, unsere Großväter und Großmütter – die viele von uns niemals kennen gelernt haben – das war alles, was wir über den Gegner zu wissen hatten.
Nun kamen aber die Bücher von Julian Semjonov und die erste sowjetische TV-Spionage-Serie „Siebzehn Momente des Frühlings“, in der Parteigenosse Martin Bormann von unserem Barden Juri Visbor gespielt wurde, und der Gestapomann Heinrich Müller von dem so sympathischen Leonid Bronevoj. In dieser Serie bewahrte ein deutscher Soldat einen russischen Späher und seinen Sohn vor der Folter und starb selbst unter dem Kugelhagel von Kripo-Agenten.
An unserer einseitigen Wahrnehmung der Vergangenheit vollzogen sich Veränderungen, und dazu trug auch der Film bei.
Selbstverständlich wussten wir schon lange, dass zwischen den Begriffen „Faschist“ und „Deutscher“ ein tiefer Abgrund lag. Und dennoch wurden sogar unsere Verbündeten im Warschauer Vertrag – die Ostdeutschen – durch das Prisma des noch gar nicht weit zurück liegenden großen Schlachtens gesehen, wo unser Volk der ganzen Welt gezeigt hatte, was denn ein wirklich grausamer, ein kompromissloser Krieg ohne Regeln ist.
Wer diesen Krieg und die deutsche Besatzung erlebt hat, weiß, dass Krieg etwas sehr schreckliches ist. Vorher, als alle Menschen bei uns von materiellem Wohlstand träumten, ging im ganzen Lande ein geflügeltes Wort um: „Nur kein Krieg!“ Es gab nichts Schlimmeres als Krieg, und deshalb waren unsere Menschen bereit, im Namen der Erhaltung des Friedens beliebige Entbehrungen zu ertragen.
Der Krieg fügte unserem Land nicht mehr wieder gut zu machenden Schaden zu. Es ist durchaus möglich, dass wir uns niemals mehr von diesem Schlag erholen werden.
In vielen russischen Dörfern kommt auf hundert Gräber nur einer, der aus dem Krieg zurückkehrte, und das noch zumeist als Krüppel.
Wir wurden erschlagen, verbrannt, erschossen.
Auch wir haben unsere Feinde unbarmherzig vernichtet. Als siegreiche Welle ergoss sich die Rote Armee über Europa und erlitt dabei ungeheure Verluste. Sie hinterließ zwiespältige Erinnerungen. Krieg ist Krieg, er ist hässlich und verderblich. Aber, man erwartete uns auch. Deshalb waren wir Befreier. In Prag und in Wien begrüßte man uns mit Blumen.
Der von Hitler pedantisch geplante Völkermord, die Gaskammern, grässliche Experimente an Menschen, die Theorie der Überlegenheit einer höheren Rasse über Untermenschen, all das lässt sich nicht vergleichen mit den Kriegsverbrechen, welche die Rote Armee und ihre Verbündeten auf dem Territorium Deutschlands verübten.
Die Faschisten haben viel Böses in meinem Land angerichtet. Aber die ins Bewusstsein der Massen eingepaukte Karikatur des herzlosen deutschen Totschlägers hat uns lange daran gehindert, aus dem Rahmen der Stereotypen heraus zu kommen und den Versuch zu wagen, den Krieg von verschiedenen Standpunkten her zu betrachten.
Unserem Volk galt ein Kreuzzug unter der Führung Hitlers, Himmlers und seiner SS, so wie auch Stalins mit seinen Diplomaten und Heerführern, welche die Theorie des Klassenkampfes höher setzten als die alle menschlichen Werte. In guter Gesellschaft damit seine (Stalins) „großen“ Krieger die das Leben unserer Großväter der verbrecherischen „Notwendigkeit“ opferten, Berlin zum 1. Mai einzunehmen. Ihre Fehlentscheidungen dankten sie ihrer eigenen Unfähigkeit, der Missachtung des Menschen und ihrer unendlichen Angst vor ihrem „großen Führer“.
Wir wurden von den eigenen Aufhalte-Einheiten des NKWD beschossen, wir wurden in Strafbataillone geschickt, man gönnte uns nicht das Überleben in Gefangenschaft, in Konzentrationslagern, und vielen verweigerte man das Recht, nach dem Sieg in die Heimat zurück zu kehren. Ganze Güterzugladungen mit „schuldigen“ Siegern wurden direkt in die sibirische Taiga transportiert.
An einer Gruppe rächte sich die Staatsmacht dafür, das sie, immerhin durch ihre (der Staatsmacht) Schuld, in Gefangenschaft gerieten, andere befanden sich gerade am Übergang über die Elbe, als dort das berühmte Zusammentreffen mit amerikanischen Soldaten statt fand. Viele von ihnen sind in den Lagern verfault, ohne zu wissen, welche Schuld man ihnen anlastete.
Das Volk hat durchgehalten. Es siegte in diesem Krieg gegen zwei Gegner, es besiegte den Faschismus und den Stalinismus weil für uns das Heimatland einen höheren Wert hatte als Ideologien. Jene Soldaten, die sich ihre Waffen und Lederstiefel im Kampf vom Gegner holen mussten, sie kämpften für ihr Vaterhaus und nicht für den Sozialismus der Zwangsarbeitslager. Jene Generäle, die auf Befehl von kremlhörigen Ungeheuern gestern noch vom letzten NKWD-Fähnrich misshandelt werden durften, haben in vorderster Linie unter Bombenhagel den großen Sieg geschmiedet.
Noch verwunderlicher aber ist es, dass unser Volk den eigenen Kremlungeheuern verziehen hat, in dem leichten Glauben, dass „die Zeiten eben so waren“ und es keine andere Möglichkeit gab. Schlimm, dass wir keinen Schauprozess über dieses System, über diese Machthaber geführt haben, über die Verantwortlichen für die Vergewaltigung des gesellschaftlichen Bewusstseins und den sinnlosen Tod von Millionen unserer Brüder und Schwestern.
Ich aber glaube, dass die Zeit kommt, wo auch wir Schurken und wirklichen Helden das geben, was sie wirklich verdient haben.
Ich glaube, es kommt die Zeit, dass auch unsere Regierenden - die rechtmäßigen Nachfolger der lägst vertriebenen Clique - vor dem ganzen Volk niederknien werden und um Vergebung bitten für das was geschehen ist. Kein anderer könnte das tun.
Ich glaube, dass wir in uns die Kraft entwickeln werden, um uns endlich bei den kleinen Völkern zu entschuldigen, in deren Ländern die geopolitischen Spiele unserer Führer auf Panzerketten gespielt wurden.
Wir wollen nicht vergessen, wie viel Schlimmes der Faschismus der Welt angetan hat. Wir müssen alle unsere Kräfte gegen diese Seuche anspannen, für die es in unserer Welt keinen Platz geben darf. Unter den Füßen muss es denen brennen, die sich faschistische Symbole auf ihre Klamotten malen, die sich hinter einem Interesse an Runen-Inschriften verstecken und unbedarfte Kinder in ihre Reihen locken.
Doch müssen wir auch den Mut finden, unser Bewusstsein für die Aufnahme dessen zu öffnen, was geschehen ist. Unsere Beziehungen zu anderen Völkern dürfen nicht nur auf momentanen Vorteilen basieren. Es kann kein stabiles gegenseitiges Verstehen erzielt werden, wenn das nur von Gaspipelines gebildet wird.
Wir müssen einander verstehen. Wir müssen mehr voneinander wissen. Wir müssen alles dafür tun, dass die weißen Flecke aus der Beziehungsgeschichte unserer Völker verschwinden. Dann werden die Deutschen nicht mehr beschämt den Kopf senken, wenn schmerzhafte Themen des vergangenen Krieges angesprochen werden, und wir werden nicht mehr aufschrecken, wenn wir die deutsche Sprache hören.
Die Tatsache, dass dieser Roman geschrieben wurde, zeugt davon, dass die Notwendigkeit in der Luft schwebt, den Punkt über das letzte „i“
zu setzen. Ich bin überzeugt, unser Volk ist dazu bereit, das Volk, dessen Kraft und Standhaftigkeit des Geistes benachbart lebt mit der Fähigkeit zum Mitleiden, zum Glauben und zum Verstehen des Nächsten.
In jedem Krieg leidet am meisten der einfache Mensch, der Soldat. Er ist es doch, der siegt, aber er erntet die Früchte der Niederlagen.
Den Menschen, den zwischenmenschlichen Beziehungen, ist dieses Buch vor allem gewidmet.
Juri Kostin